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Aldi Nord kämpft mit seiner neuen SAP-Welt

In einem der größten Technologie-Projekte in Europa hat sich Aldi Nord unter entscheidendem Einfluss von Accenture-Beratern eine komplett neue warenwirtschaftliche IT in der Cloud auf SAP-Basis gebaut. Die Umstellung der ersten Pilotregion war jedoch alles andere als ein Erfolg: Die Bestandsführung im System funktioniere in der niederländischen Regionalgesellschaft Culemborg nicht mehr, so dass die Filialen Bestellungen im Verteilzentrum wieder auf Papier tätigen würden, berichten Projekt-Mitarbeiter.

Von erheblichen Problemen bei der Warenversorgung und leeren Regalen bei Aldi Nord in dieser Region berichtete vergangene Woche auch die niederländische Fachzeitung Distrifood – deren Bilder massiver Präsenzlücken in einer Filialen der Retail Optimiser mit freundlicher Genehmigung der niederländischen Kollegen hier zeigt. Auch die Lebensmittel Zeitung berichtete diese Woche von den Problemen rund um die Pilotierung der neuen IT bei Aldi Nord.

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Die in der Region Culemborg in den vergangenen Wochen schrittweise scharfgeschaltete, neue, nun cloudbasierte Welt der Aldi Nord IT wird intern Beat@ATS genannt und besteht im Kern aus SAP S/4HANA als Warenwirtschaftssystem, der Bestandsoptimierungs-Lösung von Relex, einem neuen Lagerverwaltungssystem auf Basis von SAP EWM, einem neuen Product Information Management (PIM) System auf Basis von Informatica und der Cloud-Lösung von GK für die Kassen.

Dreistelliger Millionen-Invest

Für die gesamte Erneuerung der Informations-Technologie, zu der auch weitere Systeme zählen, hatte Aldi Nord einen dreistelligen Millionen Betrag eingeplant, berichtete Sinanudin Omerhodzic, Chief Technology Officer (CTO) des Discounters, im Jahr 2021 der Lebensmittel Zeitung.

Auch wenn noch nicht völlig klar ist, warum die neue warenwirtschaftliche Architektur einen so dramatischen Fehlstart in der Region Culemborg hingelegt hat, so weisen doch mehrere interne wie externe Projektbeteiligte unabhängig voneinander auf ein Problem der völlig neuen Anlage der Artikelstruktur im Informatica-PIM und der neuen Bestandsführungs-Logik in SAP hin, das mit einem Kernprinzip des Discounts zusammenhängt:  Den Sortiments-Kartons.

In der Filiale im niederländischen Zeist stimmen die Bestände auch physisch nicht mehr. (Foto: Bart Lelieveld / Distrifood.)
In der Filiale im niederländischen Zeist stimmen die Bestände auch physisch nicht mehr. (Foto: Bart Lelieveld / Distrifood.)

Multidimensionale Bestandsführung

Um die Komplexität der Logistik- und Filialprozesse gering zu halten, bedienen sich die Discounter des Tricks, Varianten eines Artikels auf Handelseinheits-Ebene (Case Level) zu einer Stock Keeping Unit (SKU) zusammenzufassen. Ein Sortiments-Karton enthält unterschiedliche Varianten – zum Beispiel Erdbeer-, Vanille-, Himbeere- und Kirsch-Joghurt – wird aber immer nur als Ganzes von den Filialen und Verteilzentren bestellt.

 
 

Bisher unterschied Aldi Nord in der Bestandsführung gar nicht zwischen den Varianten auf Ebene der Konsumenten-Einheit. Anders als bei Aldi Süd hatten bislang in der Aldi Nord-Welt alle Artikel in einem Sortiments-Karton die gleiche Artikelnummer. Auf Basis dieser Logik hat Aldi Nord auch erfolgreich mit der Optimierung der Filial-Bestellungen mit Relex auf Basis der alten Systemwelt begonnen: In den Niederlanden ist diese bei dem Discounter bereits flächendeckend im Einsatz.

 
Probleme mit den Beständen in der neuen Systemwelt kumulierten sich in der Pilotregion zu einem Zustand, der an Hamsterkäufe erinnert. (Foto: Bart Lelieveld / Distrifood.)
Probleme mit den Beständen in der neuen Systemwelt kumulierten sich in der Pilotregion zu einem Zustand, der an Hamsterkäufe erinnert. (Foto: Bart Lelieveld / Distrifood.)

Herausforderung neue Artikelstruktur-Abbildung

In der neuen Warenwirtschaft auf Basis von SAP S/4HANA will Aldi Nord nun auch die Varianten der Sortimentskartons im Bestand abbilden und hat daher auch seine Produkt-Stammdaten mit einer veränderten Struktur neu angelegt. Dennoch sollen jedoch Bestandsführung und Bestellung Komplexitäts-reduzierend weiter auf Case-Level-Ebene erfolgen.

Accenture habe daher eine Lösung entwickelt, mit der die Ebenen der Bestandsführung verheiratet werden sollen, heißt es aus dem Projekt. Aber dieser Weg sei hoch problematisch und nicht befriedigend gelöst, warnen interne und externe Mitarbeiter des Projektes unabhängig voneinander. 

Aldi Nord spricht von zu erwartenden Schwankungen

Offiziell erklärt Aldi Nord Group auf Anfrage des Retail Optimisers nach den Ursachen der Probleme bei der Umstellung nur, dass es sich in der Regionalgesellschaft Culemborg um einen Test einen Teil eines Warenwirtschaftssystems handele, „infolgedessen es vorübergehend zu Schwankungen der Warenbestände in den dortigen Aldi Märkten kommt, was zu erwarten war.“

Weiter erklärt Christian Schneider von der Aldi Nord Group Communications: „Solche Tests sind gängige Praxis und fester Bestandteil unserer Transformation, die wir unvermindert und nach Plan fortführen.“

Erinnerungen an Lidls SAP-Desaster 

Doch die Probleme in der Pilotregion von Aldi Nord werden von Insidern und Fachleuten mit besonderer Sorge gesehen. Auch vor dem Hintergrund, dass Wettbewerber Lidl nach einer Investition von 500 Millionen Euro Entwicklungskosten in ein neues Warenwirtschaftssystem auf SAP-Basis dieses Vorhaben 2018 komplett eingestellt hatte und nun an einer Eigenentwicklung arbeitet.

Auch wenn die Probleme im SAP-Projekt bei Lidl andere waren als bei Aldi Nord, scheinen die Projekte dennoch eins gemeinsam zu haben: Die SAP-Lösungen müssen Insidern zufolge sehr nahe am Standard eingeführt werden, um rund zu laufen. Wer die SAP-Systeme an seine Prozesse anpasst und nicht umgekehrt, kommt regelmäßig in schwieriges Gewässer.

Großer Einfluss von Accenture

Nicht zuletzt machen zu viele Eingriffe in den SAP-Standard die Handelsunternehmen abhängig von externen SAP-Beratern. Eben jenen, welche die Anpassungen gebastelt haben.  Über 100 externe SAP-Berater hat Aldi Nord für das Mega-Projekt im Haus: Ganz überwiegend kommen diese von Accenture, aber auch kleinere SAP Retail-Beratungshäuser sind im Projekt vertreten.

Ob bei Aldi Nord, Lidl oder anderen Handelshäusern: Die Diskussion dreht sich meist um die Frage, ob man für eine SAP-Einführung seine individuellen Prozesse – die ganz oft ihre Berechtigung haben – aufgibt, oder die SAP-Systeme an diese anpasst. So versprechen große Beratungshäuser oft mutig, SAP an die individuellen Prozesse eines Unternehmens anzupassen – und überheben sich dabei.

Viele leiden unter Umstellung auf SAP S/4HANA

Doch Branchenkenner berichten auch, dass nicht nur Aldi Nord, sondern alle SAP-Anwender im Handel erheblich unter der Last der Umstellung ihrer alten Systeme auf SAP S/4HANA leiden. Auch deshalb, weil nicht genug erfahrene SAP-Fachleute auf dem Markt sind, die man auf die eigene Payroll holen könnte. Zwar stellt der Handel – und gerade auch die Discounter – sehr viele neue Mitarbeiter in ihre IT ein – diese seien jedoch häufig Jobstarter mit mangelnder Projekterfahrung.

Durch diese Situation im Bereich der IT-Teams müssen sich Handelsunternehmen häufig zu stark von großen Beratungshäusern abhängig machen. Diese ziehen nicht selten große Teile der Projektsteuerung an sich oder geben Versprechungen, die sie nicht einhalten können.

Schwestern gehen eigene Wege 

Nicht zuletzt werden auch die Fragen immer lauter, warum in Anbetracht der gigantischen Investitions-Summen Aldi Nord und Aldi Süd getrennte Wege bei der SAP-basierten IT-Erneuerung gehen, obgleich die Unternehmen es schaffen, Lebensmittel und Aktionsware gemeinsam einzukaufen.

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Björn Weber

Björn Weber ist seit über 20 Jahren als Journalist, Analyst und Berater auf den Einzelhandel und die Konsumgüterindustrie spezialisiert. Bevor er die Agentur Fourspot gründete, bei der The Retail Optimiser erscheint, leitete er die internationale Analysten-Gruppe LZ Retailytics. Zuvor war er Research Director Retail Technology und Deutschlandchef von Planet Retail. Björn Weber war davor acht Jahre lang Redakteur für IT & Logistik-Themen der Lebensmittel Zeitung. Björn Weber ist Mitglied der Jury des Retail Technology Awards (Reta Europe) des EHIs. Er ist regelmäßiger Sprecher auf Veranstaltungen des EHIs, der NRF, der Branchenmedien sowie des Consumer Goods Forums.

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