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Die heimlichen Kassierer in Indien

Als das weltgrößte Online-Handelsunternehmen am 5. Dezember 2016 in einem Video sein Konzept stationärer Stores des Lebensmittel-Handels ohne Scanning und ohne physische Kassen unter dem Namen ‚Amazon Go‘ vorstellte, hielten die meisten Retail Technology-Experten, die sich jahrzehntelang bis in jedes Detail mit der Optimierung der Kassenprozesse beschäftigt haben, das ganze für einen Betrug, mit dem Amazon an weitere Millionen Investoren-Gelder kommen wolle.

Und so ganz unrecht hatten sie damit vielleicht nicht. Allerdings dauerte es bis jetzt, bis April 2024 — und bis zu über hundert scanless Stores zahlreicher Handelsgruppen später — dass der mutmaßliche Bluff auch in den Zeitungen steht: Über 1.000 Menschen an Monitoren in Indien, heißt es nun in Publikumsmedien, entscheiden für Amazon anhand von Videosequenzen über Fälle, in denen die KI eben kein sicheres Ergebnis liefert zur Frage, ob ein Shopper ein Produkt nun genommen hat oder nicht, ob er es wieder zurückgestellt hat oder nicht. Von einer vollständigen Automatisierung konnte nie die Rede sein – eher von einer Verlagerung der Kassen-Arbeitsplätze in Billiglohnländer. Amazon beschäftigt allein in seinem Customer Service-Gebäude im indischen Hyderabad 15.000 Menschen an Computer-Arbeitsplätzen – auf einer Bürofläche von gigantischen 38.000 Quadratmetern.

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Das eigentlich Faszinierende an der Geschichte ist, wie die Branche mit dem Wissen, dass die scanless Stores nicht vollautomatisch funktionieren, umgegangen ist. Anfragen des Retail Optimisers bei Experten aus der Technologie-Branche sowie bei deren Anwendern im Handel nach Statements zur Frage, wie viel manuelle Intervention ihre scanless Technologie denn nun benötigt, wurden stets abgelehnt. (Sollte sich dies nun ändern, liebe Leser: Sie finden unsere Kontaktdaten hier auf der Website.)

Tabuthema manuelle Bearbeitung

Hinter vorgehaltener Hand wurde dem Team des Retail Optimisers zwar immer bestätigt, dass es deshalb keinen in Echtzeit auf dem Smartphone des Kunden aufgebauten digitalen Warenkorb gibt – wie man ihn vom Online-Shopping gewohnt ist – weil manuelle Nachprüfungen in Billiglohnländern stattfinden. Zitiert werden wollte dazu jedoch niemand. Nicht einmal Kritiker der Technologie.

Schon bevor der Retail Optimiser 2020 seinen ersten Beitrag überhaupt publizierte, war den Gesprächspartnern der Redaktion aus der Retail Technology-Szene völlig klar, dass Menschen in Billiglohnländern über Zweifelsfälle des Einkaufs in scanless Stores entscheiden: Das berichteten sowohl die Technologie-Anbieter selbst, als auch — und das ist erstaunlich – ihre Anwender im Handel.

Leitmedien der Branche schwiegen

Die Leitmedien der Branche in den USA und in Europa wie die Supermarket News, The Grocer, LSA und die Lebensmittel Zeitung berichteten — soweit das Team des Retail Optimisers sehen kann — zwar enthusiastisch über nahezu jede Neueröffnung eines scanless Stores der großen Handelsgruppen wie Auchan, Aldi Nord, Aldi Süd, Tesco, Sainsbury’s, Edekas Netto und der Rewe Group mit ihren zahlreichen Technologie-Dienstleistern wie Trigo, Aifi, Zippin, Pixevia, Cloudpick und Grabango. Von der alles entscheidenden Frage, wie viele der Transaktionen manuell nachbearbeitet werden musste und wo dies geschieht, wurde jedoch nichts Erwähnenswertes berichtet.

Als der Retail Optimiser das Problem im Dezember vergangenen Jahres anlässlich der Ankündigung der Rewe Group, weitere scanless Pick&Go-Stores in Deutschland zu eröffnen, beschrieb, wurde er auch von einigen Publikumsmedien zitiert. Eine Anfrage der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) bei der Rewe Pressestelle auf Basis des Berichts des Retail Optimisers beantwortete die Rewe Group laut WAZ so: „Es finden grundsätzlich keine Nachprüfungen durch Menschen statt. Die Vorstellung ist grotesk.“  

Nachgefragt bei der Rewe Group

Das Team des Retail Optimisers hat daraufhin beim selben Rewe Pressesprecher nochmal nachgefragt, ob es sich dabei nicht um einen Irrtum handele, und über Zweifelsfälle eben doch durch Menschen an Monitoren – in welchem Land auch immer – entschieden werde.

Die Antwort der Rewe Pressestelle liest sich, als wisse das Handelsunternehmen selbst nicht so ganz genau, was sein Technologieanbieter Trigo tut – in den die Rewe Group auch investiert hat: „Rewe hat und hatte keinen Zugriff auf Bilder innerhalb des selbstlernenden Systems. (…) Nachprüfung durch uns finden nicht statt. (…) Aussagen von Dritten oder Quellen bei Technikanbietern können wir nicht verifizieren und damit nicht kommentieren.“

Amazon nutzt weiter sein Just-walk-out

Und Amazon? Zahlreiche Headlines, die suggerieren, dass Amazon seine Just walk out-Technologie selbst nicht weiter nutzt, entbehren jeder Grundlage. Tatsächlich will der Gigant seine Amazon Go-Stores Stand heute weiter scanless betreiben.  Lediglich auf größeren Vertriebsflächen, wie die der Amazon Fresh-Märkte, wird das Unternehmen kein scanless Shopping mehr anbieten. Stattdessen setzt Amazon dort auf die Erfassung der Ware durch die Amazon Dash-Einkaufswagen, die dort bereits seit 2020 im Einsatz sind.

 

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Björn Weber

Björn Weber ist seit über 20 Jahren als Journalist, Analyst und Berater auf den Einzelhandel und die Konsumgüterindustrie spezialisiert. Bevor er die Agentur Fourspot gründete, bei der The Retail Optimiser erscheint, leitete er die internationale Analysten-Gruppe LZ Retailytics. Zuvor war er Research Director Retail Technology und Deutschlandchef von Planet Retail. Björn Weber war davor acht Jahre lang Redakteur für IT & Logistik-Themen der Lebensmittel Zeitung. Björn Weber ist Mitglied der Jury des Retail Technology Awards (Reta Europe) des EHIs. Er ist regelmäßiger Sprecher auf Veranstaltungen des EHIs, der NRF, der Branchenmedien sowie des Consumer Goods Forums.

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